TIEPOLOS WÜRZBURG
Die Kunst der Menschenfreundlichkeit
Von Damian Dombrowski
Tiepolo-Himmel über der Mozartfest-Nachtmusik. Erhabenes Zusammenspiel von Kunst und Natur.
Foto: Peter Schuhmann
Der Würzburger Hof des 18. Jahrhunderts bringt es an den Tag: Freundschaft und Freiheit beflügeln die Musen. Nachrichten aus der Künstlerrepublik der Schönbornzeit.
»Der Vilou marchirte ab«, notierte Johann Christoph Spielberger am 2. März 1750 in sein Hoftagebuch. Im gleichen Eintrag wird der so titulierte Giuseppe Maria Visconti vom Würzburger Hoffourier auch noch als »Flegel« bezeichnet. Was war geschehen? Nun, besagter Visconti war ein handfester Hochstapler und konnte von Glück reden, am fürstbischöflichen Hof aufgeflogen zu sein und nicht woanders. Im Sommer 1749 war er in Würzburg vorstellig geworden, ausgestattet mit beeindruckenden, aber leider gefälschten Empfehlungsschreiben, die seine Vorzüge als Maler rühmten. Umgehend wurde er von Fürstbischof Carl Philipp von Greiffenclau mit der Ausmalung des Kaisersaals beauftragt, des wichtigsten Raums der neuerbauten Residenz. Doch schon bald stellte sich Ernüchterung ein: Visconti »mahlete so elend schlecht«, dass seine Machwerke »als ein erbärmliche Nichtnutzigkeit« wieder ab-geschlagen wurden. Der angebliche Mailänder Maler wurde fristlos entlassen – immerhin ein Tag wurde ihm zum Packen gewährt. Natürlich hätte er, wie Spielberger empört schreibt, »viel mehrers verdienet«, doch der Fürstbischof »wollte die Milde der Schärpff vorgehen lassen«.
Hommage an die Freundschaft? Mit der Allegorie auf den Kontinent Europa begann Giambattista Tiepolo 1752 die Arbeit am Treppenhausfresko der Würzburger Residenz.
Foto: Achim Bunz
Gnade vor Recht: Das ist bezeichnend für die zugewandte Haltung, die im Würzburger Kulturleben des mittleren 18. Jahrhunderts herrschte. Zog es vielleicht auch wegen dieser menschenfreundlichen Atmosphäre so viele herausragende Begabungen an die fürstbischöfliche Residenz? Und könnte dies nicht auch der Grund sein, warum Giambattista Tiepolo dem künstlerischen Freundschaftsbegriff gerade hier ein einzigartiges Denkmal gesetzt hat? Im Treppenhausfresko der Würzburger Residenz wird der Kontinent Europa von den Künsten verkörpert: von Architektur, Skulptur und Malerei (mit den Porträts von Balthasar Neumann, Antonio Bossi und Tiepolo selbst), von Gesang und Instrumentalmusik. Selbst die Religion gewinnt in dieser Gesellschaft Züge des Kunstvollen: Der Kontrabass in der Mitte ist, mit seinem Hals und der Schnecke des Wirbelkastens, ein Echo des Krummstabs links von ihm, der geistliche Hof schwingt in die Hofmusik hinein. Sicherlich bietet der Europafries des Treppenhausfreskos eine ideale Darstellung des Würzburger Musenhofs. Doch werfen die eingeflochtenen Porträts wegen ihres abbildenden Charakters auch die Frage auf, wie viel Wirklichkeit in diesem Ideal steckt. Dafür lohnt es sich, auf die menschlichen Beziehungen zu schauen: der Künstler untereinander, aber auch zwischen Künstlern und fürstbischöflichem Hof. Und siehe da: Freundschaft und Freiheit scheinen der Nährboden der außerordentlichen kulturellen Blüte gewesen zu sein.
Vor seinem Kommen wurde Tiepolo schriftlich zugesichert, dass er seine eigenen künstlerischen Vorstellungen frei verwirklichen dürfe – ein um die Mitte des 18. Jahrhunderts beispielloser Vorgang. Die Kameraderie und Bonhomie, die er unter den Künstlern rund um die Residenz antraf, werden ihn von der Richtigkeit seiner Entscheidung überzeugt haben, den Ruf nach Würzburg anzunehmen. Ausgerechnet im Schutz eines spätabsolutistischen Hofes keimte ein neuer Künstlertyp, der sein Dasein solidarisch definierte. Nicht nur an den künstlerischen Leistungen, auch am Charakter Tiepolos zeigten seine Auftraggeber Interesse. Als Greiffenclau ihn 1750 berief, war er nicht nur von seinem Können überzeugt, sondern auch von dessen »Redlichkeit« und »guten Eigenschaften«. Nach Tiepolos Abreise Ende 1753 schrieb Adam Friedrich von Seinsheim, damals ›Finanzminister‹ des Hochstifts Würzburg, der Maler sei »ein wakherer mann im umbgang und ein grosser künstler«. Offenbar hat man über das Ästhetische nicht das Menschliche vergessen. In Würzburg stand Tiepolo schon aus beruflichen Gründen in engem Austausch mit einer Reihe von Künstlern. Mit Balthasar Neumann muss es detaillierte Absprachen gegeben haben, denn die Lichtregie im Treppenhausfresko verlangte auch architektonische Kenntnisse. Innerhalb des Europafrieses nimmt die Porträtfigur des Baumeisters eine so prominente Stellung ein, dass wir sie wohl als Ehrenmal einer Künstlerfreundschaft verstehen dürfen. Für Neumann hat Tiepolo auch zwei Historienbilder geschaffen, wohl als Geschenk. Sie setzen militärische Begebenheiten aus der Frühzeit Roms in Szene, waren also auf den Rang des Empfängers als Obrist der fränkischen Kreisartillerie abgestimmt. Eines der Bilder zeigt im Hintergrund sogar den von Neumann als Teil der Festung Marienberg errichteten Maschikuliturm.
Der Hofstukkator Antonio Bossi galt als komischer Kauz; hier schlüpfte er sogar ins Narrenkostüm. Die anonyme Zeichnung im Martin von Wagner Museum dürfte in den 1740er-Jahren entstanden sein.
Foto: André Mischke

Der Stuckdekor im Kaisersaal und im Treppenhaus erforderte eine äußerst sensible Abstimmung zwischen Tiepolo und dem kongenialen Stukkator Antonio Bossi. Auch ihre Beziehung scheint über die rein professionelle Zusammenarbeit hinausgereicht zu haben. Bossi betätigte sich als Dolmetscher für Tiepolo, der sich damit revanchierte, dass er außer Neumann nur Bossi als auffällige Porträtfigur dargestellt hat. Eine anonyme Zeichnung gibt Bossi im Narrenkostüm wieder, vermutlich bei einem Faschingsball. Einen solchen gab der Fürstbischof im Februar 1751; unter den Gästen waren »2 Mahler Diepolo«, vermutlich Giambattista mit seinem ältesten Sohn Giandomenico. Vielleicht sollte ihnen mit dem Fest das Fehlen des venezianischen Karnevals versüßt werden. Gefeiert wurde jedenfalls bis um halb drei morgens. Auch sonst waren die Künstler der Residenz zu Späßen aufgelegt. Die Sockelzone des Venezianischen Zimmers wurde um 1740 mit einer Reihe zwergenhafter Figuren ausgestattet. Sie tragen unverkennbar Porträtzüge; Bossi und Neumann lassen sich identifizieren, daneben auch der Bildhauer Johann Wolfgang von der Auwera. Es ist die Karikatur einer Künstlergalerie – auch die Selbstironie gehörte zum Gemeinschaftsgefühl.
Seinem Mitarbeiter Georg Anton Urlaub aus Thüngersheim erwies Tiepolo eine besondere Ehre: Als einziges Mitglied seiner Würzburger Werkstatt durfte er Zeichnungen des Meisters kopieren (heute im Martin von Wagner Museum), hier die Studie einer Rückenfigur für den Asienfries im Treppenhausfresko der Residenz.
Foto: André Mischke


Zeichnungen Tiepolos durfte in Würzburg nur der aus Thüngersheim stammende Georg Anton Urlaub kopieren. Die Vorlage dieses Blatts war ein Porträt von Franz Ignaz Neumann, dem Sohn des Architekten; es befindet sich im Martin von Wagner Museum.
Foto: André Mischke
Tiepolo brachte Georg Anton Urlaub mit, der in Würzburg kein Unbekannter war: 1744 hatte er sich, obwohl im Amt eines Hofmalers, aus Würzburg davongestohlen, um in Italien noch einmal neu anzufangen und schließlich in der Werkstatt Tiepolos zu landen. Wer weiß, ob dieser seinen neuen Mitarbeiter nicht gerade wegen seines künstlerischen Freiheitsdrangs schätzte! In Würzburg durfte Urlaub Zeichnungen Tiepolos kopieren (und somit an dessen ›Betriebsgeheimnis‹ partizipieren), etliche davon bekam er geschenkt. Doch Tiepolo kümmerte sich nicht nur um seine Kollegen – den Maler und Vergolder Franz Ignaz Roth verewigte er in direkter Nachbarschaft seines Selbstporträts –, sondern auch um seine subalternen Mitarbeiter. Der bei ihm als Farbenreiber angestellte Peter Baldram hatte sich in die Tochter eines Tagelöhners verliebt; Tiepolo setzte sich persönlich dafür ein, für die beiden eine Eheerlaubnis zu erwirken. Als junger Mann hatte er selbst eine ähnliche Situation erlebt: Seine eigene Familie wie die seiner Verlobten Cecilia Guardi hatten sich gegen ihre Heirat gestemmt, die unter abenteuerlichen Umständen dennoch zustande kam. Baldram hatte weniger Glück: Trotz Tiepolos Angebot, das Paar mit nach Venedig zu nehmen, untersagten die Behörden den weiteren Umgang.

Tiepolos Coriolan, heute im Martin von Wagner Museum der Universität Würzburg, gehört zu einem Bildpaar aus dem Besitz Balthasar Neumanns – wahrscheinlich war es ein Freundschaftsgeschenk.
Foto: André Mischke
Als Venezianer kam Tiepolo aus einem der wichtigsten Zentren des europäischen Musiklebens. Er wird überrascht gewesen sein, wie sehr es auch in der Mainmetropole blühte. Zudem wimmelte es von italienischen Musikern; den fast gleichaltrigen Komponisten Giovanni Benedetto Platti könnte er noch aus venezianischen Jugendtagen gekannt haben. In der Mitte des Europafrieses geben Sängerinnen und Instrumentalisten gerade ein Konzert. Nirgendwo sonst gewinnt dieser Teil des Treppenhausfreskos eine solche Dynamik wie in dieser rhythmisch wogenden Gruppe. Belcanto und Generalbass, helle und dunkle Töne, ja die Klangfarben selbst kommen über Komposition und Kolorit zur Anschauung – vor allem aber die Zusammengehörigkeit derer, die diesem Spiel mit sichtlichem Ernst hingegeben sind. Vor unseren Augen wird aus dem Ensemble eine Gemeinschaft. Ihre Tracht aus der Zeit um 1600 grenzt die Musiker von den zeitgenössisch gekleideten Porträtfiguren der Hofkünstler ab. Mit der Entfernung aus der Lebenswirklichkeit nimmt diese Gruppe allegorische Bedeutung an: Die im Kollektiv gespielte Musik versinnbildlicht die gemeinschaftliche Aufgabe der Kunst. An der Wurzel des Konzerts der Künste, das Tiepolo im Europafries visuell erklingen lässt, ist die Freundschaft. Er qualifiziert sie sozusagen zur Herzkammer der europäischen Kultur.
Balthasar Neumann (rechts) und sein Stellvertreter Joseph Raphael Tatz als Zwerge im Duell. Zahlreiche Künstler-Karikaturen zieren das Venezianische Zimmer der Residenz.
Foto: Damian Dombrowski
Wie freundschaftlich die Beziehungen der Hofkapelle zum Umkreis des Fürstbischofs waren, beleuchtet schlaglichtartig ein improvisiertes Hauskonzert, das 1722 auf Schloss Wiesentheid stattfand. Rudolf Franz Erwein von Schönborn hatte dort spontanen Besuch bekommen – von den italienischen Musikern, die kurz zuvor für den Würzburger Hof engagiert worden waren. Erst um 5 Uhr morgens seien sie wieder abgereist, schrieb Schönborn seinem Bruder Johann Philipp Franz, Fürstbischof von Würzburg. Beachtenswert ist der Zusatz: »Es sind fürwahr herrliche Virtuosi und ansonnsten sehr anständige leuth« – die Wortwahl lässt einmal mehr das beidseitige Inte- resse erkennen, das offenbar für Würzburg charakteristisch war: an der Kunst und am Menschen. (Siehe Konzerttipp »Unter Freunden«) Zur Vermenschlichung der Kunst kam es, als Giandomenico Tiepolo in Würzburg seine frühesten Genrebilder malte. Die Gattung, die sein späteres Œuvre dominieren würde, lebt von der Beobachtung des Alltagslebens und ist in ihren besten Werken sozial und kunstvoll zugleich. Zurück in Italien, malte Giandomenico die Villa aus, die sich Familie Tiepolo mit dem in Würzburg verdienten Geld im Hinterland Venedigs zulegte. Hauptgegenstand dieser Fresken ist das Treiben der Pulcinellen, die pars pro toto für das einfache Volk agieren. Als die Serenissima 1797 erlosch, schlug erneut die Stunde dieser Possenreißer. Von nun an bis zu seinem Tod 1804 schuf Giandomenico eine umfangreiche Zeichnungsfolge mit dem Titel divertimento per li regazzi, in der die Pulcinellen zwischen Komik und Abgrund pendeln. (Siehe Konzerttipp »divertimento per li regazzi«) Doch weiterhin verbindet sie eine unverbrüchliche Solidarität. Sie sind ein Sinnbild der Freundschaft, egal wie schräg oder grob diese Freunde sind und wie unfreundlich die Zeiten. Und sie erinnern an eine Lektion, die Giandomenico aus der untergegangenen Welt der Schönbornzeit mitgenommen haben mag: dass die Kunst das Leben desto besser macht, je mehr sie von Menschenfreundlichkeit getragen wird.

Der Figur des Pulcinella widmete Giandomenico Tiepolo am Ende seines Lebens nicht weniger als 104 Zeichnungen. Als einziges Blatt befindet sich Pulcinella führt seine Braut nach Hause in einer deutschen Sammlung; eine Intervention in der Gemäldegalerie des Martin von Wagner Museums präsentiert es für die Dauer des Mozartfests 2025.
Foto: Städel Museum